Ein Schal für verschnupfte Teams – die SCARF Retrospektive
Dieser Artikel wurde ursprünglich von meinem Kollegen Armin geschrieben und erschien bereits als Impulsletter . Nachdem ich die SCARF Retro gerade mit einem Team erfolgreich durchgeführt habe (und vorher den Artikel vergeblich auf unserem Blog gesucht hatte), möchte ich unsere Erkenntnisse nun auch dem Rest der Welt zugänglich machen.
Ah, Moment, worum geht’s hier eigentlich? Das SCARF Modell wurde von David Rock entwickelt. Die Buchstaben stehen für die Bedürfnisse Status, Certainty (Sicherheit bzw. Zuversicht), Autonomie, Relatedness (Zugehörigkeit) und Fairness, die jeder Mensch hat (neben den Grundbedürfnissen Essen und Schlafen). Wird eines dieser Bedürfnisse verletzt, fühlt sich der Mensch bedroht und reagiert entsprechend. Das Modell gibt jedem sozusagen die offizielle Erlaubnis, sich aufzuregen. Interessant (vor allem für Führungskräfte und Eltern) ist auch die Erkenntnis, dass man durch das Stärken eines Faktors einen Angriff auf einen anderen Faktor abschwächen oder ausgleichen kann: „Wir haben Dich nicht zum Abteilungsmeeting eingeladen (Angriff auf Zugehörigkeit), weil Deine Expertise bei dem Spezialprojekt gerade enorm wertvoll ist (Stärkung des Status).“
Ziel der SCARF Retro ist es, dem Team das Modell vorzustellen und damit die Grundlage für Gespräche über mögliche Verletzungen und Verbesserungen zu legen. Die Teammitglieder nutzen das Modell, um offen über ihre Bedürfnisse zu sprechen, besser Feedback zu geben, und langfristig eine sehr vertrauensvolle und offene Zusammenarbeit aufzubauen.
Da der offene Austausch über SCARF-Verletzlichkeiten und unsere Wahrnehmung dazu sehr schnell zu sehr persönlichem und auch auf Teamebene zu intensivem Austausch führen wird, ist dieses Format eher für Teams geeignet, die schon eine Weile zusammenarbeiten. Es kann auch genutzt werden, um dem Team einen sicheren Rahmen zu geben, einen verborgenen Konflikt anzusprechen.
Ablauf der Retro
Check-in
Jeder Teilnehmer darf in einem Satz beschreiben, was er über das SCARF Modell weiß und was es für ihn oder sie aussagt.
Theorie
Der Moderator erklärt das SCARF Modell. Dazu zeigt der Moderator auch auf, wie wir die SCARF Eindrücke in gutes Feedback einbauen können.
Eventuell macht das Team in Kleingruppen eine Übung, um mit dem Modell vertrauter zu werden, zum Beispiel diese hier.
Teamsituation darstellen und Maßnahmen finden
Fünf Flipcharts werden mit je einem der SCARF Faktoren überschrieben. Eine senkrechte Linie oder vielleicht auch der senkrecht geschriebene Begriff teilt das Blatt. Die linke Hälfte wird mit einem glücklichen, die rechte mit einem traurigen Smiley markiert.
Im ersten Schritt sammeln die Teilnehmer konkrete Ereignisse, bei denen SCARF Faktoren verletzt oder angegriffen wurden. Jeder schreibt für sich auf Post-Its, dann werden sie mit einer sehr kurzen Erklärung durch die Teilnehmer auf den rechten Hälften der Flipcharts geklebt. Idealerweise kommen da nicht sehr viele Punkte, so dass dieser Schritt zeitlich überschaubar bleibt. Der Moderator muss sicherstellen, dass genug Zeit für den zweiten, positiven Schritt bleibt, sonst wird es eine Mecker-Retro.
Üblicherweise folgt eine kurze Diskussion zu den Punkten. Da einige dieser Punkte wahrscheinlich eher persönlicher Natur sind, ist auch die Diskussion oft sehr persönlich. Dem Raum und Zeit zu geben, schafft einen Austausch auf einer Ebene, auf der die meisten Teams eher selten unterwegs sind. SCARF öffnet eine Tür in Bereiche, in die wir mit einer „normalen Plus-Delta-Retro“ kaum hinkommen.
Im zweiten Schritt sammeln die Teilnehmer Gegenmaßnahmen und schreiben sie links zu dem glücklichen Smiley, gegenüber der Punkte, die noch gestärkt werden dürfen. Oder es werden Dinge gesammelt, mit denen das Team jetzt schon den jeweiligen SCARF Faktor stärkt, oder die das Team jetzt schon richtig macht und die ihm wichtig sind, d.h. Gründe dafür, dass die Teamsituation jetzt schon so gut ist.
Diese beiden Schritte werden entweder nacheinander für jeden einzelnen SCARF Faktor durchgeführt oder jeweils für alle Faktoren auf einmal. Mein Favorit ist die zweite Variante, denn dabei ist es leichter, ein schwieriges Thema anzusprechen, weil sich das Post-It erst ein-mal im allgemeinen Gewimmel „verstecken“ kann (statt dass das ganze Team vor dem „Autonomie“ Poster steht und nur darauf wartet, dass der Junior-Entwickler sagt, er möchte auch mal alleine denken dürfen). Außerdem lassen sich manche Probleme nicht eindeutig einem Faktor zuordnen.
Wenn sich das Team des Öfteren des SCARF Modells bedient, kann man damit auch die persönliche Wahrnehmung einer anstehenden Veränderung zum Ausdruck bringen. So kann zum Beispiel die Abwehrhaltung gegenüber einem Teamwechsel seine Ursache in einer befürchteten Status- oder Autonomie-Verletzung haben etc.
Next steps
Am Ende der Retro darf jeder Teilnehmer eine Aktion aus der letzten Runde auswählen, die er im kommenden Sprint bewusst einsetzen wird und dabei die Veränderung in der Gruppe beobachten wird.
Auch nur die intensive Beobachtung von SCARF-relevantem Verhalten kann eine sinnvolle Aktion sein. Das Team darf jetzt Bewusstsein für diese Skala entwickeln, um die kommenden Retrospektiven und Feedbackrunden bewusst mit SCARF Informationen zu untermauern.
Danke
Die Teilnehmer bekommen den Raum, um sich gegenseitig „Danke“ zu sagen und das Verhalten und die Beiträge aus der Retro oder dem vergangenen Sprint wertzuschätzen.
Nächste Retrospektive(n)
Sinnvollerweise werden die Ergebnisse und Beobachtungen in (einer der) folgenden Retrospektiven aufgegriffen und nochmals reflektiert.
Wir wünschen Euch viel Erfolg und das wundervolle Erlebnis, ein tiefgehendes Gespräch im Team in Gang gebracht zu haben.
Armin und Ute