Was vor Corona undenkbar war, ist seit spätestens April 2020 für uns alle Realität. Statt gemeinsam im Büro zu sitzen und als Team im gleichen Raum wirken zu können, sitzen wir tagtäglich in den eigenen 4 Wänden im Homeoffice.
Neben verschiedenen negativen Nebenwirkungen hat diese Situation jedoch auch tolle Vorteile erzeugt, welche viele Mitarbeiter schätzen.
Von verschiedenen Personen erfuhr ich, dass sie seit Corona vor allem ihre Wohnsituation stark verändert haben.
Eine Person hat sich die eigene Wohnung in der Nähe der Arbeitsstelle gespart und wohnt nun wieder bei den Eltern, eine andere Person hat sich im deutschsprachigen Ausland eine Wohnung gekauft und wohnt und arbeitet nun von dort und eine dritte Person sitzt (wohl eher freiwillig) seit Corona an einem Strand mit Remote Work fest.
Im privaten Umfeld bekomme ich häufiger die Frage, was ich von Corona halte bzw. was die Zukunft bringen könnte. Im Herbst letzten Jahres habe ich diese Frage stets positiv und optimistisch bewertet. Eine gewisse Freiheit des Arbeitsplatzes und die Förderung von mehr Work Live Balance hätte ich durchaus für möglich gehalten.
Inzwischen hat sich dieser Optimismus leider ein wenig gedreht…
Warum?:
„Ich glaub, ich red gegen ne Wand…“
Als ScrumMaster und Agiler Coach schätze ich vor allem Interaktion zwischen Teammitgliedern und das schnelle adaptive Lösen von Problemen als Team. Gern gehe ich hier neue Wege und probiere neue Dinge aus. Auch muss es für mich nicht sein, dass man versucht alle Interaktionen der Vergangenheit mit digitalen Tools nachstellt. Neue Herausforderungen dürfen auch neue Lösungen generieren. Dennoch entdecke ich in Kollaborationen und Trainings leider sehr häufig ein Problem: das Fehlen der Kamera.
Hinter dieser vermeintlichen „Kleinigkeit“ versteckt sich aus meiner Sicht ein viel größeres systemisches Problem. Die Technik ermöglicht es uns, uns hinter dieser zu verstecken und gleichzeitig Emotionen zu verstecken. Verborgene Konflikte, schlechtere Transparenz und (aus meiner Sicht) ein verlorenes Teamgefühl sind die Folge. Laut Experten kommunizieren wir zu 55 % (Mehrabian/Ferris 1967, 252) mit unserem Körper. Ohne visuelle Reize geht also der Großteil unserer Kommunikation verloren. Meine Beobachtung zeigt aber einen noch viel drängenderen Wert in der Benutzung von Kameras: Personen die ihre Kamera anhaben sprechen im Verhältnis viel öfter als Personen ohne Kamera. Nun könnte man dies zwar auf Intro-/Extroversion schieben, doch kommunizieren auch Teammitglieder und Zoom-Teilnehmer deutlich häufiger, nachdem sie meiner freundlichen Bitte nach Kameras gefolgt sind.
Der Höhepunkt der Anonymität
Den Höhepunkt dieser Bewegung hatte ich vor kurzem in einem Training an einer Hochschule, an welcher ich als Dozent wirken darf. 68 schwarze Balken, 68 anonyme Kacheln, welche ich 16 Stunden lang berieseln durfte. Interaktionen und Techniken von „Training from the Back of the Room“ funktionieren zwar – der Spaß und das ständige Feedback, welches ich aus Trainings gewohnt bin, ging aber komplett verloren. Nun – ich bin nicht gewohnt, dass mich meine Studenten mit Fragen löchern…doch, dass sich diese Interaktion noch mehr minimieren lässt, hätte ich nicht erwartet.
Und doch war genau dies der Fall. Noch eine Nummer härter: Während der Veranstaltung waren alle Studenten parallel noch in einem Discordchannel angemeldet. In diesem (so vermute ich) wurde deutlich offener gesprochen, ungehörtes Feedback gegeben und interagiert.
Und was soll dieser Rant jetzt?
Inzwischen sehe ich die Chancen mit positiven neuen Ideen aus der Situation deutlich pessimistischer. Meine Vermutung ist, dass Teams, welche es schaffen, eine ganzheitliche Kommunikation beizubehalten die Vorteile des Homeoffice behalten dürfen.
Eine direkte Interaktion auch in dieser Pandemiezeit darzustellen und wertvolles Teamwork unter Beweis zu stellen, wird hier den Unterschied machen.
Dabei könnte es so einfach sein, mehr Interaktion zu erzeugen. Gathertown bietet eine schöne Alternative, das eigene Büro nachzubauen und das unkomplizierte „Kannst du mal kurz“ auch digital darzustellen. Miro und Mural helfen uns in der Interaktion auf digitalen Whiteboards und Experimente wie der „Kaffeetalk“ oder telefonische Walk ’n Talks können helfen, Teams wieder näher zueinander zu bringen.
Frag doch mal Radio- oder Fernsehmoderatoren, wie sie damit umgehen, dass sie kein direktes Feedback von ihrem Publikum bekommen. Was motiviert die, trotzdem mit der Wand zu sprechen?
Hey Thomas,
das ist eine tolle Frage. Leider habe ich da keine Kontakte, interessieren würde es mich aber :).
Ich vermute einfach mal, dass auch hier Feedback direkt eingeholt wird durch Marktbefragungen und Meinungsforscher. Was denkst du?
Hallo Veith,
danke für Deine Ausführungen. Ich beobachte ziemlich ähnliche Phänomene.
Anfangs habe ich es nur auf mein persönliches Empfinden zurück geführt, da ich sehr gerne mit meinen Kunden direkt, Vorort, live und „in Farbe“ interagiere. Diese abgekoppelte Kommunikationsform behagt mir schlicht nicht.
Mittlerweile sehe ich in so vielen Situationen und Organisationen genau das gleiche Muster: Wir verbringen mehr Zeit mit dem Kommunizieren und erleben mehr und mehr Kommunikationslosigkeit.
Wenn in einer langen und umständebedingt ineffizienten Online-Diskussion ein schwerer Konflikt entsteht, ist es sehr einfach, der Neigung, auszuweichen, nachzugeben. Kamera aus, Mikro aus, im Chat ein „ich muss mal dringend zur Toilette“ hinterlassen. Schon ist das Thema geparkt und es wird selten wieder ausgepackt. So schwelt aber der Konflikt weiter und kommt auf den Haufen von ungeklärten Themen. In einer meiner letzten Firmen nannte man das das „Sammeln von Rabattmarken“: Irgendwann ist das „Heft mit Rabattmarken“ voll und es kommt zum Eklat.
Selbstverständlich sind das keine neuen Phänomene, aber sie verschärfen sich meiner Beobachtung nach. Wenn ich eine/n Kollegen/in noch nie in meinem Leben real gesehen habe, ist die Chance sie/ihn falsch zu verstehen nunmal enorm viel größer.
In manchen Trainings – umso größer die Gruppe, umso schlimmer – erlebe ich nahezu null Resonanz. Da ist m.E. auch der Unterschied zu einem Radio-Programm zu sehen. Dieses ist nicht dazu ausgelegt, einen kontinuierlichen Austausch zu haben. Bei einer Wissensvermittlung, Trainings, Coachings sehr wohl. Wie kann ich auf die Bedürfnisse meiner Beteiligten eingehen, wenn ich nicht oder nur unzureichend verstehe, was sie bewegt?
Meine Befürchtung ist allerdings, dass die Pandemie die Arbeitsrealität von Coaches und Trainer nachhaltig verändern wird – auch wenn das Infektionsgeschehen längst abgeflaut sein wird.
Gruß
Alex
Ich bin schon motiviert, direkt einen Folgeartikel zum Thema zu verfassen. Gern dran bleiben :) #55-38-7