Dialogische Haltungen im agilen Umfeld
Dialogische Kultur und „Being Agile“ passen ideal zusammen. In diesem Beitrag beschreibe ich die Dialogischen Haltungen (nach Dietz) und gebe Beispiele dafür, wie sie die agile Zusammenarbeit unterstützen können.
Gemeinsam den Zusammenhang mit der Wirklichkeit herstellen
Kennt ihr diese Besprechungen, in denen es am Ende nur noch um die Kraft der Rhetorik und das letzte Wort und längst nicht mehr um die Sache selbst geht? „Was war nochmal das Thema? Egal, aber ich habe recht!“ Und irgendwann verstummen Andersdenkende resignierend.
Wenn das so läuft, sind manche, wenn nicht sogar alle, sehr stark bei sich und ihrer eigenen Vorstellung davon, was das Richtige ist.
Möchte ich hingegen gemeinsam einen Zusammenhang mit der Wirklichkeit herstellen, steht nicht meine Meinung von etwas im Mittelpunkt des Austauschs, sondern das Thema selbst. Ich setze mich dann nicht mit allen Mitteln der Rhetorik (oder Hierarchie…) durch, sondern bringe meine Perspektiven ein, indem ich sie neben die Sichtweisen der anderen stelle. Erst wenn alle Aspekte einer Sache auf dem Tisch liegen, komme ich der Wirklichkeit des Themas näher.
Ein Beispiel, das mir da immer einfällt, ist die Kundenorientierung. Wie oft habe ich schon Sätze von dieser Qualität gehört: „Ach, der Kunde weiß doch gar nicht, was er will!“ oder „Wir wissen doch längst, wie der Kunde tickt!“
Menschen, die so sprechen, lieben ihre Vorstellung von der Wirklichkeit mehr als die Wirklichkeit selbst. Und sie spielen ein gefährliches Spiel. Es gibt nichts Komplexeres als Kundenverhalten und Erkenntnisse von gestern können heute schon wertlos sein. Ich muss mir also regelmäßig ein Bild darüber verschaffen, wie sich Kundenwünsche verändern.
Oder wie ist das mit der gemeinsamen Sache in Review-Terminen? Zeige ich Arbeitsergebnisse, um durch Feedback zu lernen? Oder versuche ich, die Stakeholder davon zu überzeugen, dass die Lösung brillant ist und sie nur zu dumm sind, es gleich zu erkennen? Auch das ist ein riskantes Spiel, bei dem es am Ende keine Gewinner gibt.
Was hilft?
Lass konträre Gedanken zu, ohne gleich reinzugrätschen. Hör dir die Aspekte deiner Mitstreiter:innen an und macht gemeinsam was draus.
Und keine Sorge: verstehen heißt nicht automatisch, einverstanden zu sein! Man darf ruhig auch mal zugeben, das Argument des anderen verstanden zu haben.
Und lass doch mal versuchsweise das Wörtchen „aber“ weg!
Den anderen im Verstehen und Mitteilen erreichen wollen
„Wird die Marketing Chefin morgen beim Termin dabei sein?“„Keine Ahnung, gesagt habe ich es ihr. Aber, ob sie verstanden hat, wie wichtig das für unser Vorankommen im Projekt ist, weiß ich nicht.“
Unbefriedigend. Da spricht man schon miteinander und trotzdem kann man nicht sicher sein, dass die andere verstanden hat. Klar kann das immer mal passieren. Aber haben die Beteiligten wirklich alles dafür getan, dass verstanden werden konnte, worum es geht?
Was sollte man beachten, um wirklich verstanden zu werden?
- Achte darauf, dass man dir auch wirklich zuhört. Fordere es ggf. aktiv ein.
- Überlege dir vorher, was du sagen willst und was der andere am Ende verstanden haben soll.
- Fokussiere dich beim Sprechen auf das Wesentliche.
- Drücke dich klar und verständlich aus.
- Sprich auch über Gründe und Motive. Das hilft, zu verstehen – auch dir selbst!
- Kommuniziere gewaltfrei, damit dein Gegenüber keinen Grund hat, Widerstand aufzubauen.
- Verzichte auf Manipulation.
Legt man Wert darauf, sein Gegenüber zu verstehen, bedarf das einiger Willensanstrengungen.
Beherrsche ich meinen Willen oder beherrscht mein Wille mich?
Man möchte dann nicht nur wissen, was der andere sagt, sondern auch, was er denkt und warum er es sagt und denkt. Man interessiert sich für die Motive des anderen.
Wie das geht mit dem Verstehen?
- Höre zu, um zu verstehen, nicht um zu antworten!
- Bewerte nicht vorschnell.
- Paraphrasiere! Gib mit eigenen Worten wieder, was du verstanden hast, um sicherzugehen, dass das, was du verstanden hast, wirklich im Sinne des Gesagten ist.
- Achte auch auf Gesten und Tonfall. Darin stecken auch Botschaften.
- Beachte auch, wie es Deinem Gegenüber geht. Ist er z.B. angespannt oder gestresst?
- Stelle Fragen, um Zusammenhänge noch besser zu verstehen.
Wird in einer Begegnung auf verstehen und verstanden werden geachtet, werden nicht nur Ansichten verbreitet, sondern auch Einsichten gewonnen. Es findet ein gemeinsamer Erkenntnisprozess statt, bei dem Neues entsteht.
Die Gefühle in den Dienst des gegenseitigen Verstehens stellen
„Hast Du die Neue schon gesehen? Also sympathisch wirkt die ja nicht gerade! Kann mir nicht vorstellen, mit der gut zusammenzuarbeiten…“
Antwortmöglichkeit 1: „Echt? Ich finde sie ganz sympathisch!“
Antwortmöglichkeit 2: „Boah ja, geht mir genauso. Total unsympathisch!“
In beiden Fällen sagt der Dialog viel mehr über die Gesprächspartner aus als über „die Neue“, über die da gesprochen wird.
Gefühle bestimmen unser Denken und Handeln. Sympathie oder Antipathie können also stark beeinflussen, wie die Protagonisten auf die neue Kollegin zugehen werden.Die spannende Frage ist nun: Habe ich Gefühle oder haben die Gefühle mich?
Man kann sich ganz seiner Antipathie hingeben und die neue Kollegin meiden oder zulassen, dass ihre Anwesenheit einen blockiert oder sogar lähmt.
Man kann aber auch seine Gefühle in den Blick nehmen und sagen:
„Interessant, die neue Kollegin löst in mir ein Gefühl von Antipathie aus. Woran liegt das?“
Im Umgang mit der Frage erfährt man in erster Linie einiges über sich selbst. Gefühle sind dann nicht mehr handlungsbestimmend, sondern werden zum Erkenntnismittel.
Im Gespräch der beiden Kollegen oben wäre das vielleicht auch eine gute Antwortmöglichkeit 3:
„Echt? Du findest sie unsympathisch. Was löst sie denn in dir aus?“
Die eigenen Gefühle zu betrachten, ist schwieriger als zum Beispiel Handlungen oder Erkenntnisse. Aber es ist trainierbar. Frag dich einfach immer mal wieder selbst in verschiedenen Situationen, was du gerade fühlst. Das ist sehr spannend!
Und was machen wir jetzt mit der Neuen? Einfach mal empathisch und neugierig auf sie zugehen, Fragen stellen und zuhören. Dazu muss man sie nicht mögen, nur respektieren.
Die gemeinsame Sache vorwärtsbringen
Ein Unternehmen beschließt, den veralteten Internet-Auftritt neu zu gestalten. Agenturen werden gebrieft und stellen nun ihre Ergebnisse vor. Im Raum sind hohe Vertreter des Unternehmens aus verschiedenen Ressorts.
Ein Prototyp wird präsentiert und plötzlich entfesselt der Geschäftsführer eine heftige Diskussion darüber, dass das Firmenlogo an einer Stelle nicht CI-gerecht eingebaut wurde. Die Situation droht zu eskalieren und die ganze Unternehmung und die Agentur werden infrage gestellt.
Um die Ideen aus dem Prototyp geht es längst nicht mehr. Im Vordergrund stehen Angriffe und Verteidigungsstrategien.
Wie wäre dieser Termin in einer Dialogischen Kultur abgelaufen?
Wenn die gemeinsame Sache (=neuer Internet-Auftritt) im Fokus steht, kann das verunglückte Firmenlogo im Prototypen auch einfach mal ignoriert werden. Warum das Negative aufspießen und nicht das Positive hervorheben? Da waren doch auch gute Ideen drin! Warum nicht die aufgreifen und daran weiterarbeiten?Das hätte Verletzungen erspart und nicht gleich alle zarten Ideenpflänzchen zertrampelt.
Ähnlich ist es mit unterschiedlichen Ansichten zu Vorgehensweisen. Mit Blick auf das, was man gemeinsam erreichen möchte, muss man nicht zwingend mit allen rhetorischen oder hierarchischen Mitteln seine eigene Meinung durchsetzen.
Ein beliebtes Mittel ist, darauf zu warten, dass das Gegenüber etwas Unausgegorenes von sich gibt und schon hat man einen geeigneten Angriffspunkt, um den anderen abzubügeln und zum Verlierer zu stempeln.
Warum nicht alle Meinungen und Aspekte auf den Tisch legen und das Weiterführende aufgreifen? Dann geht es nicht mehr um gewinnen oder verlieren, sondern um die Sache selbst. Aus dem Gegeneinander wird dann ein Miteinander.
Haltungen haben immer mit Selbstführung zu tun. Und in dem Fall führt man sich selbst, wenn es einem gelingt, Unzureichendes stillschweigend vorübergleiten zu lassen. Stattdessen greift man das Fruchtbare auf und bringt so die gemeinsame Sache voran.
Probiert es aus!
Für Unerwartetes offen sein
„Wer für alles offen ist, kann nicht ganz dicht sein“
Kann sein, aber im Zusammenarbeitskontext ist das eher selten das Problem. Viel häufiger vermisst man doch vielmehr die Offenheit für Unerwartetes und Ungewohntes.
„Das haben wir schon immer so gemacht!“
„Das hat schon vor 10 Jahren nicht funktioniert, warum sollte es jetzt gehen?“
„Ich weiß doch, wie es läuft!“
Diese und ähnliche Aussagen sind Anzeichen dafür, dass Offenheit durch Erfahrung ersetzt wurde.Erfahrung ist grundsätzlich gut, hilfreich und manchmal sogar lebensrettend. Wenn es darum geht, in Zeiten wachsender Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität Themen voranzutreiben, kommt man allerdings allein mit Erfahrung schnell an Grenzen und wiegt sich unter Umständen in trügerischer Sicherheit.
Agilität bietet Antworten zu dieser Thematik in Form von Prinzipien, Praktiken, Frameworks, etc. Aber auch die sind keine Selbstläufer, sondern daran gebunden, dass man sich auf Neues einlassen kann und will und unerwartete Wendungen als Lernchance begrüßt. Nur dann funktioniert z.B. Inspect & Adapt.
In Meetings kann das so aussehen:
- Geh mit konkreten Zielvorstellungen ins Gespräch
- Hör dir an, was andere dazu sagen und versuche es zu durchdringen
- Heiße unvorhergesehene Aspekte willkommen, auch wenn sie nicht zu deiner ursprünglichen Vorstellung passen
- Löse dich ggf. von bisherigen Vorstellungen, damit Platz für Neues, Besseres entstehen kann
Gleichgewicht herstellen zwischen den einzelnen Haltungen
In den letzten Abschnitten habe ich fünf Dialogische Haltungen vorgestellt. Sie wurden in den 90er Jahren von Dr. Karl-Martin Dietz formuliert.
In neueren Schriften weist er in Form der sechsten Dialogischen Haltung „Gleichgewicht herstellen zwischen den einzelnen Haltungen“ darauf hin, dass es auch darauf ankommt, die einzelnen Haltungen in ein Gleichgewicht zu bringen.Es ist nicht sinnvoll, im Team eine Arbeitsteilung einzuführen, bei der sich die eine Kollegin darauf beschränkt, Gefühle in den Dienst des gegenseitigen Verstehens zu stellen, während ein anderer sich dem Ungewohnten öffnet und eine Dritte die gemeinsame Sache vorwärts bringt.
Vielmehr geht es darum, dass jede und jeder Einzelne in sich diese Haltungen ausprägt und in Einklang bringt.
In seinem Buch „Dialog – Die Kunst der Zusammenarbeit“ (4. Aufl. 2014) hat Dietz folgende Fragen zusammengestellt, anhand derer man sich immer wieder orientieren und selbst führen kann:
- Ist das, was ich beitragen will, sachgemäß?
- Will ich wirklich sprechen – oder bin ich nur zu nervös zum Schweigen? Will ich die anderen verstehen oder nur meine eigene Meinung loswerden?
- Wie weit spreche ich aus Emotion?
- Will ich das Gespräch vorwärts- oder nur mich selbst zur Geltung bringen? Ist das, was ich sage, zukunftsträchtig und entwicklungsfähig?
- Ist, was ich sage, neu? Oder ist es nur eine Wiederholung bereits geäußerter Gesichtspunkte? Könnte es sein, dass ein anderer meinen Gesichtspunkt aussprechen wird, wenn ich ihm nur Gelegenheit dazu gebe?
- Passen meine Gedanken, Reden und Handlungen zusammen? Sind sie in sich konsistent? Ergeben sie ein Ganzes?
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An dieser Stelle herzlichen Dank an Saskia Jancik für die tollen Illustrationen der Dialogischen Haltungen!
Danke für diesen wunderbaren Artikel. Ich habe mich sehr darin wiederfinden können. Bestimmt werde ich ihn noch öfter lesen und ab Oktober meinem neuen Team verteilen. Als Scrum Master ein essentieller Schritt ist es, sich selbst zurück zu nehmen und das verbindende der unterschiedlichen Aussagen zu finden und/oder das Team für das Aussprechen verschiedene Galtungen und Ideen zu motivieren.
Herzlichen Dank
Michaela
Hallo Michaela,
vielen Dank für Dein tolles Feedback. Gut auf den Punkt gebracht! Ich bin gespannt, wie Dein Team auf den Artikel reagieren wird. Berichte gerne mal hier oder über einen anderen Kanal.
Herzliche Grüße
Karsten