Kollegiale Fallberatung
Die Kollegiale Fallberatung ist eine einfache Methode, sich von Gleichgesinnten bei einem Problem beraten zu lassen. Ich habe das Format im Rahmen meiner ScrumMaster Ausbildung 2017 kennen gelernt und bin nach wie vor ein großer Fan davon. Deswegen möchte ich es hier für Dich zum Nachmachen beschreiben.
Rollen
Die kollegiale Fallberatung ist eine Form der Intervision, das bedeutet, dass alle Beteiligten gleichgestellt sind und keiner eine höhere oder wichtigere Funktion einnimmt. Das ist einer der Unterschiede zur Supervision und zum Coaching, wo eine Person als Experte mit besonderer Ausbildung wirkt.
Die wichtigste Person ist offensichtlich der Fallbringer – die Person mit dem Problem. Sie bringt ihr Anliegen oder Thema in die Gruppe ein. Sie muss einverstanden sein, auch über eigene Probleme, Schwierigkeiten und Gefühle zu sprechen, um eine möglichst aussagekräftige Beratung zu ermöglichen.
Außerdem braucht man natürlich ein paar Berater. Vier bis sechs ist eine gute Anzahl, es funktioniert aber auch mit mehr oder weniger. Weil es ja eine Intervision ist, sind die Berater sind alle gleichberechtigt, d.h. niemand hat eine besonders herausgestellte Rolle, und alle Meinungen und Beiträge sind gleich wertvoll. Sie reflektieren den Fall vor ihrem eigenen persönlichen und professionellen Hintergrund und bringen ihre Erfahrungen ihr Wissen und ihre Ideen in die Beratung ein.
Es empfiehlt sich, zusätzlich einen Moderator und Zeitwächter zu benennen, der auf die Einhaltung der Beratungsphasen und der Timeboxen achtet. Insbesondere sollte eine strikte Trennung zwischen Analysephase bzw. Hypothesen-Generierung und dem Entwicklern von Lösungsideen beachtet werden (siehe unten).
Je nach Geschmack und Anzahl Teilnehmer kann es darüber hinaus noch einen oder mehrere Beobachter geben, die Feedback zum Prozess und zu den einzelnen Teilnehmern geben und im Notfall bei Verstößen gegen Methode oder Rollen eingreifen. Außerdem kann es nützlich sein, wenn eine weitere Person den Sachverhalt für alle sichtbar visualisiert, zum Beispiel am Flipchart oder Whiteboard.
Ablauf der kollegialen Fallberatung
Der Prozess der kollegialen Fallberatung gliedert sich in sieben Phasen. Für jede Phase gibt es eine empfohlene Timebox, die man mit etwas Erfahrung nach eigenem Geschmack anpassen kann. Meiner Erfahrung nach macht es zum Beispiel Sinn, bei online durchgeführten Sessions die Phasen alle etwas länger zu machen.
Phase 1: Der Fall (5 Minuten)
Der Fallbringer beschreibt sein Anliegen. Er teilt der Gruppe alles mit, was seiner Ansicht nach für den Fall relevant ist, einschließlich Hintergrundinformationen. Alle anderen Teilnehmer hören schweigend zu. Abschließend stellt der Fallbringer eine Frage an die Berater, die sein Problem auf den Punkt bringt. Bewährt hat sich die Formulierung: „Wie kann ich …?“. Es kann hilfreich sein, diese Frage zu visualisieren.
Phase 2: Verständnisfragen (5 Minuten)
Die Berater stellen Verständnisfragen an den Fallbringer. Dabei ist es wichtig, dass der Moderator darauf achtet, dass in den Fragen nicht schon Lösungsideen vorweg genommen werden! Es ist also okay, zu fragen: „Was hast Du schon probiert?“, aber nicht: „Könnte XYZ helfen?“.
Phase 3: Generieren von Hypothesen (10Minuten)
Jetzt verlässt der Fallbringer die Runde der Berater und geht außer Sichtweite, bleibt aber in Hörweite, denn er soll ja die Ideen aus der Beratung mitnehmen. Die Berater hingegen sollen sich nicht durch Mimik und Gestik des Fallbringers bei ihrer Beratung beeinflussen lassen. Online sollte der Fallbringer auch sein Mikrofon ausschalten, um den Beratungsprozess nicht durch Geräusche zu beeinflussen. Die Berater sammeln in dieser Phase Hypothesen, zum Beispiel darüber, wie oder warum das Problem entstanden ist. Der Moderator achtet darauf, dass hier noch keine Lösungsideen genannt werden. Das ist wichtig, um eine große Bandbreite an Hypothesen zu erhalten und sich nicht vorschnell auf eine mögliche Ursache festzulegen.
Phase 4: Feedback durch den Fallbringer (5 Minuten)
Der Fallbringer kommt zurück in die Runde und gibt den Beratern Feedback zu den Hypothesen. Er geht darauf ein, welche er für wahrscheinlich und welche er für abwegig hält, und welche er schon selber verifizieren oder falsifizieren konnte. Er macht auch deutlich, zu welchen Hypothesen er gern Lösungsansätze hören möchte. In dieser Phase hören die anderen Teilnehmer nur zu.
Phase 5: Generieren von Lösungsideen (8 Minuten)
Der Fallbringer geht wieder außer Sichtweise. Die Berater sammeln alle Lösungsideen und Handlungsoptionen, die ihnen zu den vom Fallbringer ausgewählten Hypothesen einfallen. Obwohl es sich banal anhört: je konkreter diese Ideen sind, desto hilfreicher! Manchmal fehlt dem Fallbringer nur genau die richtige Methode, um ein Problem zu lösen. Ein allgemeiner Hinweis, „das mal anzugehen“ hilft nicht so viel. Das habe ich schon ein paar Mal beobachten können. Das kann man als Fallbringer natürlich auch vorab deutlich machen.
Phase 6: Erneutes Feedback durch den Fallbringer (5 Minuten)
Analog zu Phase 4 gibt der Fallgeber, jetzt wieder in der Runde, den Beratern Feedback zu ihren Ideen und wählt für sich selber die aus, die ihm hilfreich erscheinen und die er angehen möchte.
Phase 7: Retrospektive zum Beratungsprozess (5 Minuten)
Abschließend wird kurz über das Erlebte gesprochen und Ideen erarbeitet, wie man den Prozess verbessern und beim nächsten Mal besser an die Bedürfnisse der Teilnehmer anpassen kann. Hier ist auch die Wahrnehmung der Beobachter sehr wertvoll.
Hier nochmal der ganze Ablauf als übersichtliches Schaubild:
Die Spielregeln
Damit das ganze funktioniert, sind, wie in jedem Team, ein paar Working Agreements oder Spielregeln unerlässlich. Da ist zuerst einmal die Las Vegas Regel: alles, was bei einer Beratungsrunde besprochen wird, bleibt in dieser Runde und wird nicht nach außen getragen. Das ist notwendig, damit der Fallbringer ohne Furcht vor Konsequenzen oder Indiskretion über sein Problem sprechen kann.
Der Fallbringer hat außerdem ein Veto-Recht gegen Berater und Moderator; wenn er aus irgendeinem Grund mit irgendeinem der Beteiligten ein persönliches Problem hat, wird sich das negativ auf den Erfolg der Beratung auswirken.
Jeder Teilnehmer kann zu jeder Zeit die Gruppe verlassen. So eine Beratung kann ganz schön intensiv sein, und niemand sollte sich gezwungen fühlen, auszuhalten, wenn er damit überfordert ist.
Je nach Zusammensetzung der Runde kann es für eine unbelastet, vorurteilsfreie Beratung empfehlenswert sein, wenn keine Personen aus demselben Arbeitskontext kommen. Es könnte sein, dass sonst ein Berater dabei, der an dem Fall direkt beteiligt ist, was sich auf dessen Objektivität auswirken könnte.
Natürlich könnt Ihr vor Beginn der Beratung und in der Retrospektive weitere Spielregeln vereinbaren, die Euch sinnvoll erscheinen.
Kollegiale Fallberatung erleben
Na, hat Dich das neugierig gemacht? Möchtest Du das Format live erleben, kriegst aber keine geeignete Beratergruppe zusammen? Das ist kein Problem – komm einfach zu einem Treffen der Intervisionsgruppe für Agile Coaches in Karlsruhe! Zur Zeit treffen wir uns etwa einmal im Monat online (deswegen musst Du noch nicht mal in der Nähe von Karlsruhe wohnen), und wir freuen uns immer über interessante Fälle und begeisterte BeraterInnen!
Natürlich komme ich auch gerne zu Dir in Deine Organisation und unterstütze Dich bei der Moderation Deiner ersten eigenen Intervisionsgruppe – schreib mir einfach an ute.schroeder@emendare.de!